Leben mit paranoider Schizophrenie – Zwischen Stimmen, Stille und Stärke

20.10.2025

Ein persönlicher Erfahrungsbericht über paranoide Schizophrenie: Symptome, Therapie und Alltag mit Stimmen im Kopf. Camillo erzählt, wie Struktur, Medikamente und Selbstmitgefühl helfen, ein stabiles, erfülltes Leben zu führen.

Leben mit paranoider Schizophrenie – wenn die eigene Realität lauter wird als die Welt

Ich erinnere mich an den Moment, an dem ich verstanden habe:

Das, was ich höre, sehen andere nicht.


Diese Erkenntnis war kein Schlag – sie war ein stilles Begreifen. Ein "Ah, deshalb…" nach Jahren voller Verwirrung, Angst und Scham.

Seit meiner Jugend begleiten mich Stimmen. Manche klingen vertraut, manche fremd. Sie sind laut, fordernd, manchmal verletzend. Und obwohl ich heute weiß, dass sie Teil meiner Erkrankung sind, fühlten sie sich lange an wie ein Urteil – gegen mich.

Was paranoide Schizophrenie wirklich ist

Schizophrenie bedeutet nicht, "zwei Persönlichkeiten" zu haben – das ist ein häufiger Irrtum.

Sie beschreibt eine Störung der Wahrnehmung und des Denkens, bei der das Gehirn Reize, Gedanken und Gefühle falsch zuordnet.


Die paranoide Schizophrenie, die bei mir diagnostiziert wurde, ist die häufigste Form.

Sie ist geprägt von Stimmenhören (akustische Halluzinationen) und Misstrauen (paranoiden Gedanken).


Ich höre Stimmen, die kommentieren, beleidigen oder Befehle geben.

Ich habe Phasen, in denen ich überzeugt bin, jemand beobachtet mich oder will mir schaden.

Ich weiß heute: Das ist kein Wahn – es ist eine Überreaktion meines Gehirns auf Stress, Schlafmangel oder emotionale Überforderung.

Typische Symptome, die ich erlebe

  • Stimmenderen: mal laut, mal leise – oft kritisch oder wertend

  • Misstrauen und Verfolgungsgefühle: das Gefühl, andere könnten über mich reden

  • Konzentrationsprobleme: besonders, wenn die Stimmen präsent sind

  • Erschöpfung & Rückzug: wenn die Belastung zu groß wird

  • Antriebslosigkeit & depressive Phasen: wenn alles zu viel scheint


Diese Symptome kommen und gehen in Wellen. Ich habe gelernt, sie zu beobachten, statt mich von ihnen beherrschen zu lassen.

Was wirklich hilft – Medikamente & Therapie

Ich bekomme derzeit Abilify (Aripiprazol) als Depot-Spritze.

Antipsychotische Medikamente wirken auf die Botenstoffe im Gehirn – vor allem Dopamin – und helfen, Fehlsignale zu dämpfen.

Sie nehmen nicht meine Persönlichkeit, sondern geben mir Klarheit und Ruhe.


Seit ich das Medikament regelmäßig bekomme, sind die Stimmen leiser und weniger bedrohlich geworden.

Ich spüre wieder Kontrolle über meine Gedanken.


Dazu mache ich Verhaltenstherapie, in der ich lerne:

  • Wie Stress meine Symptome verstärkt

  • Wie ich Warnzeichen früh erkenne

  • Und wie ich mit Misstrauen und Stimmen umgehe, ohne mich zu verlieren


Die Kombination aus Medikamenten und Psychotherapie ist für mich der Schlüssel.

Medikamente stabilisieren – Therapie stärkt.

Leben im Alltag mit Schizophrenie - Struktur ist mein Rettungsanker

Ich beginne jeden Tag gleich: aufstehen, Wasser trinken, dehnen, planen.

Routine gibt mir Sicherheit, wenn mein Kopf laut wird.


🚫 Keine Drogen, kein Schlafentzug


Marihuana hat meine Stimmen früher massiv verstärkt.

Heute weiß ich: Schlaf, Ernährung und Bewegung sind meine unsichtbaren Medikamente.


🧘 Pausen und Achtsamkeit


Wenn die Stimmen laut werden, atme ich. Ich richte meine Aufmerksamkeit auf das Jetzt – den Boden, die Luft, das Gewicht meiner Hände.

Das Erdende hilft mir, den Stimmen den Raum zu nehmen.

Mein Umgang im Arbeitsalltag

Ich arbeite im HR-Bereich bei Wien Energie, in einem kreativen und fordernden Umfeld.

Früher war es undenkbar für mich, dass jemand wissen könnte, was in meinem Kopf passiert.

Heute weiß ich: Offenheit ist keine Schwäche – sie ist Selbstschutz.


Ich kommuniziere ehrlich, wenn ich überlastet bin oder eine Pause brauche.

Ich nutze klare Strukturen, Reminder und feste Zeitblöcke, um Fokus zu behalten.

In stressigen Phasen helfen mir Stille, Musik und kurze Rückzugszeiten, um Reizüberflutung zu vermeiden.


Ich habe gelernt, dass es okay ist, anders zu funktionieren – solange ich weiß, wie ich mich selbst stabil halte.

Meine Tipps für den Alltag

  1. Routinen schaffen: Gleiche Schlaf- und Essenszeiten helfen, Stabilität aufzubauen.

  2. Warnzeichen ernst nehmen: Wenn Stimmen oder Ängste zunehmen – sofort Rücksprache mit Arzt.

  3. Reizüberflutung vermeiden: Licht, Lärm, Menschenmengen frühzeitig reduzieren.

  4. Notfallkoffer bereithalten: Medikamente, Telefonnummern, Musik, Entspannungsübungen.

  5. Selbstmitgefühl üben: Schizophrenie ist kein Versagen – sie ist Teil deiner Geschichte, nicht deine Identität.

  6. Unterstützung annehmen: Familie, Freunde, Therapeutinnen oder Kolleginnen, denen du vertraust.

 Fazit

Ich lebe mit einer Diagnose, die viele fürchten – und trotzdem lebe ich gut.

Ich habe gelernt, dass Heilung nicht bedeutet, dass die Stimmen verschwinden.

Heilung bedeutet, dass sie nicht mehr bestimmen, wer ich bin.


Schizophrenie ist kein Ende – sie ist ein anderer Weg, das Leben zu verstehen.

Mit Medikamenten, Therapie, Struktur und Achtsamkeit ist Stabilität möglich.


Und das Wichtigste:

Ich bin nicht meine Stimmen. Ich bin der, der entscheidet, wem ich zuhöre.