Bewerbung mit Behinderung – mein ehrlicher Leitfaden als neurodiverser Mensch

18.10.2025

"Ich habe gelernt, wie man sich anpasst. Aber nie, wie man dabei ganz bleibt."

Dieser Satz hat mich lange begleitet. Ich saß vor Stellenanzeigen, feilte an Anschreiben, sprach in Bewerbungsgesprächen so "glatt" wie möglich – und fühlte mich danach leer. Bis ich mir versprach: Ich suche nicht länger Jobs, in denen ich mich verstecken muss. Ich suche Teams, in denen ich ich sein darf – mit ADHS, Bipolarität und Borderline. Mit Hyperfokus und Reizüberflutung. Mit kreativen Höhenflügen und Tagen, an denen ich Stabilität brauche

Was du gleich liest, ist kein Lehrbuchtext. Es ist mein Weg. Meine besten Strategien. Mein ehrlicher Erfahrungsbericht zur Bewerbung mit Behinderung – von der Stellensuche über das Gespräch bis ins Onboarding. Und ja: Es geht auch darum, wann und wie ich über Neurodiversität spreche (oder bewusst nicht).

Wie ich heute erkenne, ob ein Job wirklich zu mir passt

Früher habe ich mich von Schlagworten blenden lassen: "Dynamisches Umfeld!", "Hands-on!", "eierlegende Wollmilchsau gesucht!" – und landete in Rollen, die mich ausbrannten. Heute prüfe ich anders. Ich lese Stellenanzeigen wie Landkarten: Sind die Wege klar? Gibt es Brücken? Oder nur Nebel?


Ich achte auf konkrete Aufgaben statt Buzzwords. Ich suche nach Rahmenbedingungen, die Fokus erlauben (Hybrid, Gleitzeit, Kernzeiten). Ich horche auf Inklusionssignale: Wird Diversität im Text sichtbar gelebt oder nur behauptet? Gibt es Hinweise auf Buddy-Systeme, Feedback-Routinen, eine Einarbeitungsstruktur? Unternehmen, die Neurodiversität ernst meinen, nennen Beispiele: ruhige Zonen, Remote-Optionen, flexible Meetings, Ansprechpersonen für Barrierefreiheit.

Mein persönlicher Pre-Check ist simpel und rettet mich vor Fehlstarts. Ich schreibe mir drei Sätze auf:

1. Womit liefere ich messbar Wert?

2. Was brauche ich, damit das nachhaltig gelingt?

3. In welcher Arbeitsweise blühe ich auf – nicht nur "halte durch"?


Wenn ich darauf keine klare Antwort finde, ist die Stelle selten ein Match. Das ist kein Luxus. Das ist Selbstschutz – und die Voraussetzung dafür, dass ich in einem Team wirksam werde.

Sagen oder nicht sagen? – Meine ehrliche Antwort

Es gibt kein Muss. Niemand ist verpflichtet, Diagnosen zu teilen. Die Frage ist: Was hilft mir, gut zu arbeiten? Ich nenne meine Neurodivergenz situativ.


Im Anschreiben erwähne ich ADHS, Bipolar oder Borderline nur, wenn die Stelle klar inklusiv wirkt oder wenn ein Arbeitsmodus wichtig ist. Dann klinge ich so: "Ich arbeite produktiv in klar strukturierten Sprints und profitiere von ruhigen Fokuszeiten." Das ist wirkungsorientiert statt diagnoselastig.

Im Gespräch spreche ich nicht über Etiketten, sondern über Auswirkungen und Lösungen – in meiner Sprache, ohne Dramatik:

  • ADHS: "Ich liefere stark in klaren Zielkorridoren. Fokusblöcke und kurze Syncs helfen mir, Tempo und Qualität zu halten."

  • Bipolar: "Ich plane vorausschauend, arbeite mit Frühwarnzeichen und priorisiere saubere Übergaben – so bleibt Delivery stabil."

  • Borderline: "Klare, wertschätzende Kommunikation und fixe Feedbacktermine geben mir Sicherheit – dann kann ich sehr verbindlich liefern."


Merke: Diagnose ≠ Identität. Ich teile genau so viel, wie nötig ist, damit unsere Zusammenarbeit gelingt – nicht mehr.

"So kann ich liefern" – Barrierefreiheit, die mir wirklich hilft

Ich habe mir lange verboten, Bedürfnisse auszusprechen. Heute gehe ich mit fertigen Lösungen ins Gespräch – das nimmt allen die Angst, etwas "falsch" zu machen.


Für ADHS brauche ich Struktur ohne Micromanagement:

Fokusblöcke im Kalender, maximal drei echte Prioritäten pro Tag, ruhige Vormittage für Strategie, kurze asynchrone Updates statt Dauer-Calls. So kann ich tief arbeiten – und sichtbar bleiben.


Für Bipolarität ist Stabilität wichtiger als Geschwindigkeit:

Planbare Deadlines, Vorlauf bei Briefings, dokumentierte Übergaben, Pausen, Schlaf. Wenn ich Energie managen darf, bleibt die Leistung konstant.


Für Borderline sind Beziehungen und Sprache entscheidend:

Regelmäßige 1:1s, konkretes Feedback ("Was war gut? Was ändern wir?"), Konflikte zeitnah und klar besprechen. Sicherheit im Miteinander macht mich verlässlich.


Ich formuliere das im Gespräch als gemeinsames Projekt: "Damit ich dauerhaft auf diesem Niveau liefern kann, helfen mir Fokuszeiten, planbare Deadlines und eine klare Ansprechperson. So habe ich in meinen letzten Projekten sehr gute Ergebnisse erzielt."


Das ist kein "Sonderwunsch". Das ist professionelle Arbeitsorganisation – und genau das, was gute Teams sowieso brauchen.

Mein Bewerbungsgespräch – echt bleiben, Wirkung zeigen

Ich eröffne mit Impact, nicht mit Innenleben: "Ich bringe X Jahre Erfahrung in Marketing/Employer Branding mit, habe Projekte A/B/C aufgebaut und skaliert. Besonders stark bin ich in Strukturierung, Kampagnenkonzept und kreativer Umsetzung." Danach beschreibe ich meine Arbeitsweise (sprintbasiert, dokumentiert, kurze Syncs, Deep-Work-Fenster). Erst dann spreche ich über Rahmenbedingungen – lösungsfokussiert.


Ich frage nach dem, was mir Stabilität gibt: "Wie sichern Sie Fokuszeiten im Team? Gibt es Buddy-Programme oder feste Feedback-Routinen? Wie läuft das Onboarding?" Das ist kein Verhör – das ist Achtsamkeit gegenüber meiner Gesundheit und der gemeinsamen Arbeit.


Ich habe immer Arbeitsproben dabei, mindestens ein strukturiertes Case-Beispiel (Problem → Vorgehen → Ergebnis). Und zwei ehrliche Fragen zur Kultur. Alles andere wächst im Gespräch.

Onboarding & die ersten 90 Tage – mein Stabilitätsfahrplan

Die ersten Wochen entscheiden, ob ich nur "ankomme" – oder aufblühe. Ich bitte aktiv um eine Ansprechperson und rhythmisiere mich:

  • Woche 1–2: Rollen klären, Ziele, Tools, Stakeholder. Dokumentieren, nicht nur hören.

  • Woche 3–6: Quick Wins liefern, 1:1-Routinen festigen, Prozesse transparent machen (ADHS liebt visuelle Checklisten).

  • Woche 7–12: Roadmap für das nächste Quartal, Meilensteine fixieren, Review-Rituale etablieren.


Ich arbeite mit meinem Stabil-Kit: Noise-Canceling, geblockte Fokuszeiten, 2 Minuten Box-Breathing, ein kurzes Mood-Check-in (Skala 1–10) und ein Notfallplan: Wen rufe ich an, wenn's kippt? Was ist mein erster Mini-Schritt zurück in die Spur?

Wenn's schwer wird – so bleibe ich handlungsfähig

Neurodivers zu sein, heißt nicht, jeden Tag linear zu funktionieren. Es heißt, seine Hebel zu kennen.


Wenn ADHS überlädt, mache ich einen 10-Minuten-Reset: Wasser, Bewegung, einmal frische Luft. Danach eine Aufgabe zu Ende bringen. Fertig schlägt perfekt.


Wenn Hypomanie zieht, halbiere ich To-Dos, lasse Deadlines gegenchecken, übergebe früher, schlafe. Geschwindigkeit ist kein Wert, wenn sie an der falschen Stelle sitzt.


Wenn Borderline-Trigger feuern, benenne ich das Gefühl ("Ich bin gerade extrem verunsichert"), verschiebe große Entscheidungen um 24 Stunden und schreibe eine Faktenliste: Was weiß ich sicher? Diese Rückkehr zur Realität rettet Beziehungen und Projekte.


Wichtig: Ich habe vorher vereinbart, dass ich mich kurz entziehen darf (Walk, ruhiger Raum) und danach verbindlich wieder andocke. Das ist kein Rückzug aus Verantwortung – das ist Profi-Selbstmanagement.

Recht, Förderung, Rückenwind

Informier dich – oder hol dir Unterstützung – zu Behindertenpass/Begünstigtenstatus, Förderungen für Hilfsmittel und Arbeitsplatzausstattung, Behindertenvertrauensperson, externer Arbeitsassistenz. Hilfe annehmen ist keine Schwäche. Es ist Partnerschaft mit dir selbst.


Für mich war myAbility der Gamechanger: ein Netzwerk, das Neurodiversität nicht als Risiko, sondern als Ressource versteht – vom Talentprogramm über Matching-Day bis zur Beratung für Arbeitgeber:innen. Dort habe ich zum ersten Mal erlebt, dass Unternehmen "deshalb" sagen, nicht "trotzdem".

Mein Fazit – Du bist nicht deine Diagnose. Du bist dein Impact.

Ich suche heute nicht mehr nach einem Job, in dem ich mich anpasse, bis ich mich verliere. Ich suche nach Teams, in denen ich wirksam bin, weil ich echt bin. Ich gehe ehrlich rein, biete Lösungen an, fordere Struktur – und liefere.


Bewerbung mit Behinderung ist kein Bittstellen. Es ist ein Qualitätscheck – für dich und den Arbeitgeber. Wenn du gerade suchst: Bleib bei dir. Zeig, was du kannst. Wisse, was du brauchst. Und trau dich, danach zu fragen.


Es gibt Unternehmen, die sagen nicht "trotzdem", sondern "deshalb".

Und dort wirst du nicht nur funktionieren – dort wirst du leuchten.